Frühkindliche Entwicklung und Lernbegleitung
„Die Seele des Kindes ist das Allerheiligste im Tempel der Menschheit. In ihr lagert das Glück und die Freiheit der Welt."
ERICH MÜHSAM
Meine Arbeit mit Kindern ist und wird immer wieder neu impulsiert durch die anthroposophische Menschenkunde und Heilpädagogik. Theorie und Praxis sind dabei so eng verwoben wie der Fluss und die Landschaft, durch den er fließt. Wesentlicher Bestandteil ist der liebevoll-wache Blick auf die Entwicklung der basalen Körpersinne, die das leibliche Fundament für jeden seelischen und geistigen Inhalt bilden.
Nehmen wir als Beispiel die zentralen Lebensvorgänge Nahrungsaufnahme und Verdauungstätigkeit. Beide haben sowohl eine leibliche Grundlage als auch eine geistige Entsprechung. So wie wir leiblich Nahrung aufnehmen und verdauen, können wir als geistigen Vorgang Gedanken aufnehmen und verarbeiten (verdauen). Für einen dem Leben dienenden Prozess muss es dabei gelingen, die Nahrung zuerst in die Nahrungsbestandteile aufzuspalten, um dann körpereigene Substanz aus diesen aufzubauen. Entsprechend vermag das Denken kritisch zu zergliedern, zu analysieren, um aus dem so Gewonnenen neue Gedanken zu bilden, also wieder synthetisch aufbauend tätig zu sein.
Ob ein Kind Lerninhalte freudig aufnehmen und umsetzen kann, hängt wesentlich davon ab, ob es die sensomotorische Entwicklung in den ersten sieben Lebensjahren abgeschlossen hat. Die Relevanz des Zusammenspiels zwischen Reizaufnahme (Sensorik) und Reizantwort in Form von Bewegung (Motorik) wird regelmäßig durch die moderne Wissenschaft belegt.
Sinnesentwicklung und Körpererfahrung bilden die Grundlagen für Sozialkompetenz und Lernfähigkeit. Die Sinne für Gleichgewicht und Bewegung sind zentral für die Bewegungskoordination. Sie spielen außerdem eine wichtige Rolle im Verarbeiten von visuellen und auditiven Sinneseindrücken sowie in der Fähigkeit zu fokussieren und bilden so eine basale Grundlage für sämtliche Wahrnehmungs- und Lernprozesse.
Treten Auffälligkeiten im Sozialverhalten, Ängste und/oder Lernschwierigkeiten auf, kann der Grund in einem Mangel an unbewusster Eigenwahrnehmung durch die basalen Körpersinne liegen.
Grundlage für die Lernbegleitung ist die „Extrastunde“, ein Förderansatz nach Audrey McAllen. Ausgewählte motorische Übungen helfen dem Kind, die Lerngrundlagen Koordination, Fokussierung und Offenheit für den Lernstoff in der Lernbewegung zu stabilisieren. Dazu kommen Übungen zur Wahrnehmungsschulung sowie Übungen im Malen und Zeichnen, die dem Kind helfen, eine Struktur zu ergreifen und einen Überblick über das Wesentliche zu bekommen. Darauf aufbauend setzt die inhaltliche Förderarbeit am Unterrichtsstoff an.
Lernen ist ein sehr komplexer Vorgang, an dem der ganze Mensch beteiligt ist. In den ersten Jahren entwickelt sich das Kind besonders auf der leiblichen Ebene – entlang bestimmter Meilensteine auf der Grundlage seiner Anlagen und der Interaktion mit der Umwelt auf seinem individuellen Weg. Durch Rhythmus und Wiederholung übt es Bewegungen, verfeinert seine Wahrnehmung und entwickelt damit seinen ganzen Sinnes- und Bewegungsapparat, während das Gehirn und das gesamte Nervensystem reifen. Diese Reifungsprozesse vollziehen sich während der gesamten Kindheit, jedoch ist für die weitere Entwicklung besonders das erste Lebensjahr von zentraler Bedeutung. Das Gehirn braucht Stimulation durch die Sinne, damit sich Nervenzellen verzweigen und myelinisieren, das zentrale Nervensystem die volle Integration erlangen kann. Ein ganz besonderes Gewicht liegt dabei auf der Anregung des Gleichgewichtssystems sowie der taktilen und kinästhetischen Sinne. Erhält ein Kind genügend Stimuli solcherart, wird seine Gehirnreifung befördert. Ist das Kind noch klein, erhält es diese Stimulation zumeist von den Eltern – durch Berührung, gewickelt und gewiegt werden und dadurch, dass es ständig selbst rhythmische Bewegungen produziert.
Kann diese Entwicklung gesund und vollständig verlaufen und kommt mit der Dominanzfindung um das 7. Lebensjahr herum zu einem Abschluss, stehen dem Kind alle leiblichen Fähigkeiten – unbewusst (!) funktionierend – zur Verfügung, mit denen es lernen möchte. Dadurch werden bisher körperlich gebundene Kräfte frei und ermöglichen ein Lernen im Seelischen (Schulreife). Die Lernfähigkeit des Kindes macht es auch möglich, die Wachstumskräfte zu missbrauchen, in einseitiger Weise verfrüht zu trainieren und damit die körperliche Entwicklung zu schädigen.
Zunehmend finden wir schlecht integrierte frühkindliche Bewegungsmuster tief im System des Kindes versteckt. Dort wirken sie sich störend auf die Funktion der Sinne und der Bewegungsorganisation aus und führen z.B. zu folgenden Symptomen:
- Wahrnehmungsschwierigkeiten
- Aufmerksamkeitsstörungen mit oder ohne motorische Unruhe
- mangelnde Impulskontrolle
- Störungen im Sozialverhalten
- unstrukturiertes Lernen
Den betroffenen Kindern kann geholfen werden, wenn sie Raum bekommen, um nachzureifen und sich die Grundlage zu erarbeiten für gelungene Lernprozesse. Diese besteht nicht zuletzt aus der Fähigkeit der räumlichen Orientierung und dem eigenen Körperbewusstsein – der Körpergeografie.
Bei der Diagnostik betrachten wir die konstitutionellen Voraussetzungen des Kindes und die Ausreifung der basalen Sinne (Tastsinn, Vital-/Lebenssinn, Eigenbewegungs-und Gleichgewichtssinn).
Die „Extrastunde“ beruht auf dem umfassenden pädagogischen Förderkonzept der englischen Waldorfpädagogin Audrey McAllen und geht aus von den archetypischen Gesetzen der neurologischen und Bewegungsentwicklung. Gezielte Bewegungsübungen ermöglichen es, fundamentale körperliche Entwicklungsprozesse noch einmal zu durchlaufen oder auch tatsächliche Schritte innerhalb dieser Entwicklung zu sein. Durch ihren archetypischen Charakter sind sie überwiegend so konzipiert, dass das Kind sich im Laufe der Zeit selbst korrigiert.
Ansatzpunkt für McAllen ist die Orientierung im Raum als Grundlage für die Orientierung in der Fläche, die alle Schüler in der Schule brauchen und damit die Wahrnehmungs- und Bewegungsorganisation des Menschen. Der beschrittene Entwicklungsweg besteht darin, dass die Kinder zunächst ihren Körper (ihre eigene Leiblichkeit erforschen), sich beheimaten (einziehen in ihr „Leibeshaus“) und eine Wahrnehmung (ein Bewusstsein) der inneren Räumlichkeit entwickeln. Von der eigenen Leiblichkeit ausgehend erringen sie die äußeren Raumesrichtungen (rechts/links/oben/unten/vorne/hinten) und erleben sich immer wieder neu in verschiedensten Dimensionen (beim Liegen, Krabbeln, Schreiten, Schaukeln, Springen, …).
Gesunde Entwicklung braucht Polarität. Durch ein kontrastreiches Erleben von Sinnesqualitäten (z.B. Schwere – Leichte) wird die Wahrnehmungsfähigkeit der Kinder für die eigene Befindlichkeit erhöht und das Wohlgefühl von Ruhemomenten erlebbar. Indem die Kinder körperlich das Erleben der verschiedenen Spannungszustände immer wieder aufsuchen, lernen sie allmählich, ihre Intentionen sinnvoller in das Ganze einzufügen und das Anknüpfen an die eigene Lebensaufgabe wird möglich.
Zusammengenommen schaffen die vier unteren Sinne (R. Steiner) ein stabiles Fundament für ein gesundes Selbsterleben, ein Zuhause-Sein im eigenen Leib. Mit ihrer Entwicklung wird die psychosomatische Grunddisposition geschaffen, die wir ins Leben mitnehmen als Grundlage für alles, was wir danach noch lernen, erleben und entwickeln.
Der ausgereifte Tastsinn lässt das Kind die Eindrücke der materiell-stofflichen Welt spüren ohne dass diese seine ganze Aufmerksamkeit fordern. Er fragt das Kind „Wo bist du zu Hause?“ und vermittelt ihm „in meinem Leib“. So schenkt er dem Kind Sicherheit in sich selbst, das wahre Gottvertrauen und gibt ihm ein inneres Bild seiner Leibesgestalt, des Raumes, den es ausfüllt durch die Wahrnehmung seiner Körpergrenze: „Ich bin eine geschlossene Ganzheit“ (Grundlage des Selbsterlebens).
Der Lebens- oder Vitalsinn spricht zum Kind „Ich fühle mich wohl in meinem Haus“ und lehrt es, sich dem universellen Lebensrhythmus anzupassen. Durch ihn erhält das Kind eine Wahrnehmung seiner innerleiblichen Prozesse und eine Orientierung, was im Lebenszusammenhang wahrhaft stimmt. Es erfährt von der Mitte ausgehend seine Grenzen im Mangel und in der Befriedigung. Im späteren Wechselspiel von körperlicher Anstrengung und Glücksgefühl (Flow) lernt das Kind seine Möglichkeiten kennen und macht vielfältige „Ich kann für mich sorgen und weiß, was dem Leben dient“-Erfahrungen (Grundlage des Selbstvertrauens).
Der Eigenbewegungssinn oder die Tiefensensibilität verschafft dem Kind die Wahrnehmung der eigenen Körperbewegung und Bewegungsqualität. Er liefert Informationen über die Position des Körpers im Raum sowie die Stellung der Gelenke und des Kopfes. Er meldet den Spannungszustand von Muskeln und Sehnen und ermöglicht das Erkennen der Bewegungsrichtung. Er bildet die leibliche Grundlage für Aufmerksamkeit und ein ausgewogenes Gefühlsleben. Durch ihn kann das Kind die Erfahrung machen „Ich bin sinnvoll wirksam tätig in der Welt“ (Grundlage der menschlichen Freiheit).
Der Gleichgewichtssinn oder die Vestibuläre Wahrnehmung ermöglicht die stetige, kaum bewusste Empfindung des eigenen Verhältnisses zur Schwerkraft und ein unbeschwertes Zusammenspiel des ganzen Körpers. Durch das Ausbalancieren der drei großen Gewichte des Menschen – Kopf, Rumpf und Becken – entsteht ein „leichtes“ Körpergewicht, die Wirbelkette kann sich aufrichten und den Rumpf bis zum Kopf hinein beweglich stabilisieren, so dass ein Aufrechtstehen und Aufrechtgehen möglich wird. Die Frage an das Kind lautet: „Kannst du dich auf die Bedingungen der Welt einstellen?“ Durch den ausgereiften Gleichgewichtssinn gewinnt es inneren Halt, kann sich den Anforderungen des Lebens stellen und Belastungen standhalten (Grundlage der Selbstsicherheit).
Um Menschen aller Altersstufen im pädagogischen (familiären oder beruflichen) Kontext in ihrer Entwicklung zu unterstützen, müssen wir erst verstehen lernen, worin ihre Schwierigkeiten gründen.
Wir nehmen z.B. wahr, dass ein Kind nicht oder verzögert auf unsere
Ansprache reagiert. Vielleicht fällt es ihm schwer, die Sinnhaftigkeit von
Situationen oder Gedanken mitzuvollziehen. Vielleicht kann es die Grenzen
anderer nicht achten. Dieser Unfähigkeit im Sozialen liegt häufig ein Mangel an
unbewusster Eigenwahrnehmung zugrunde. Wenn wir versuchen, auf der sozialen Ebene das Kind „zu erziehen“, kommen wir oft nicht weiter. Wenn wir aber ergründen, was die leibliche Voraussetzung dafür ist, dass diese Fähigkeiten von sich aus reifen können, können wir helfend tätig werden.
Eine wesentliche Voraussetzung für sozial kompetentes Verhalten sowie schulische und berufliche Leistung ist die Ausreifung der vier Qualitäten von Körperwahrnehmung. Diesem Zusammenhang zwischen Leib, Seele und Geist in seinen verschiedenen Reifungsstadien nähern wir uns in der sogenannten Kinderkonferenz, die insbesondere in pädagogischen und heilpädagogischen anthroposophischen Einrichtungen seit vielen Jahrzehnten gepflegt wird.
Sie ist eine eigenständige Methode, um Kinder und Erwachsene in ihren Besonderheiten und Entwicklungsgefügen besser zu verstehen und stets von einer positiven Grundeinstellung sowie dem Bemühen um vorurteilsfreies Vorgehen bestimmt. Sie durchläuft methodisch aufgebaut verschiedene Stufen und erfordert Wachsamkeit bei allen Beteiligten, damit nicht für vorhandene Sympathien oder Antipathien Raum entsteht, sondern das Wesen des jeweiligen Menschen selbst sich aussprechen kann.
„Die wichtigste Erkenntnis des Lehrers in seinem Verhältnis zu dem individuellen Kind ist doch die, dass ein jedes Kind uns ein Rätsel aufgibt, welches wir als Lehrer und Erzieher zu lösen haben, wenn wir dem Kind wirklich helfen wollen.“ (Christof Wiechert)